Frau Flothkötter, wozu hat es vor zehn Jahren das Netzwerk gebraucht?
Es gab zwar Gesundheitsförderung in Kitas und Schulen, aber in den 2000er Jahren noch keinen bundesweiten Ansatz, der die prägende Phase rund um die Schwangerschaft und die ersten drei Lebensjahre nutzte. Wir wollten diese wichtige Lücke schließen und mit dem Netzwerk flächendeckend einen neuen Weg einschlagen, um junge Familien von Anfang an bei einer gesunden Lebensführung zu unterstützen. Wir sind dankbar, dass das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft, kurz BMEL, in diese Idee investiert und das Netzwerk in allen Phasen unterstützt hat. Das hat der Sache wirklich Gewicht gegeben und war für die öffentliche Wahrnehmung wichtig.
Welche Rolle spielt die Lebensphase um Schwangerschaft und Familiengründung?
Die Lebensphase der Schwangerschaft und Familiengründung ist sehr prägend, weil junge Eltern besonders offen für Lebensstiländerungen und Ernährungsthemen sind und Familiengewohnheiten frühzeitig geprägt werden. Gleichzeitig sind Eltern gerade zu Beginn oft unsicher und haben viele Fragen.
… und bekommen verschiedenste Ratschläge und Tipps.
Ja, für Schwangere und Eltern kann es eine Herausforderung sein, eine informierte Entscheidung darüber zu treffen, welcher Weg für sie und ihr Kind der beste ist. Es gibt so viele Informationen aus den Medien. Es gibt Irrtümer, die sich hartnäckig in der Gesellschaft halten und dann etwa durch Familienangehörige an sie herangetragen werden. Auch Fachleute geben teils widersprüchliche Hinweise.
Ist das Kernaufgabe des Netzwerks, hier aufzuklären?
Wir möchten Eltern mit fundierten, einheitlichen und eindeutigen Informationen unterstützen, damit sie ihren Kindern ein gesundes Aufwachsen ermöglichen. Wir haben in Deutschland fast 800.000 Geburten jährlich. Daraus ergibt sich eine große Chance, flächendeckend in der Gesundheitsprävention zu wirken und mit einer Stimme zu sprechen.
Mit einer Stimme sprechen – zeichnet das die Netzwerkarbeit aus?
Das ist unser Ziel. Das erreichen wir, indem wir uns gemeinsam mit den relevanten Fachgesellschaften der Frauenärzt*innen, Hebammen und Kinder- und Jugendärzt*innen auf einheitliche, wissenschaftlich fundierte Empfehlungen verständigen, die dann von allen Berufsgruppen übereinstimmend umgesetzt werden. Mittlerweile ist das Netzwerk wie eine große Familie, in der eine gute Atmosphäre herrscht. Wir verständigen uns im Konsens auf die Handlungsempfehlungen. Das war bis dahin einmalig und ist es noch heute.
Wie entstehen diese Handlungsempfehlungen?
Sie basieren auf aktuellen, wissenschaftlichen Erkenntnissen und haben gleichzeitig den Alltag von Familien im Blick. Zu Beginn der Erarbeitung findet eine Bestandsaufnahme der vorhandenen Empfehlungen aller relevanten Fachorganisationen und Institutionen statt. Aussagen zu den Themen Ernährung und Gesundheit für Schwangere, Stillende, Kinder im ersten Lebensjahr oder Kleinkinder werden systematisch recherchiert. Leitlinien, Metaanalysen, Übersichtsarbeiten, wissenschaftliche Artikel und Informationsangebote für Verbraucher*innen werden gesichtet und bewertet. So können wir auf Basis der aktuellen wissenschaftlichen Datenlage einheitliche und praxisnahe Handlungsempfehlungen formulieren.
Wie gelingt es, dass die einheitlichen Empfehlungen Akzeptanz finden?
Die Handlungsempfehlungen werden vom wissenschaftlichen Beirat des Netzwerks in einem Konsensprozess verabschiedet. Das heißt, alle Fachgruppen müssen damit einverstanden sein. Das gelingt, wenn Beteiligte sich auf Augenhöhe begegnen und Gelegenheit bekommen, ihre Standpunkte und Bedürfnisse in solche Prozesse einzubringen. Es ist wichtig, ein wertschätzendes Umfeld und ein Gefühl des Miteinanders zu schaffen. Nur so bringen sich viele ein, auch mit kreativen Ideen, und machen Lösungsvorschläge, wenn die Abstimmungen mal in einer Sackgasse stecken.
Sind sie heute eine Standard-Grundlage für die fachliche Beratung?
Genau, wir setzen uns dafür ein, dass alle Fachkräfte und Multiplikator*innen die Handlungsempfehlungen kennen, sich damit fachlich auseinandergesetzt haben und sie in ihrer Beratung umsetzen. Ergänzend gibt es Beratungsmaterialien, die etwa bei Vorsorgeuntersuchungen eingesetzt werden können: Aufkleber für den Mutterpass und das gelbe Kinderuntersuchungsheft, Merkblätter für Vorsorgeuntersuchungen, Flyer und Broschüren.
Welche Rolle spielen die Multiplikator*innen bei der Verbreitung der Empfehlungen und des Wissens?
Wir brauchen dafür alle unsere Netzwerkpartner*innen und die Fachkräfte an der Basis, die mit den Eltern direkten Kontakt haben. Neben unterstützenden Materialien für die Beratung bieten wir auch Fortbildungen für Fachkräfte aus den Gesundheitsberufen an und informieren mit Fachartikeln und auf Veranstaltungen. Mittlerweile haben wir mit @gesund.ins.leben auf Instagram auch einen eigenen Social-Media-Kanal, wo wir mit Eltern und Fachleuten in einem direkten Austausch sind. Unsere Empfehlungen erreichen auch über die Webseite eine große Zahl an Menschen, die nach Antworten auf ihre Fragen rund um die Schwangeren-, Baby- und Kleinkindernährung suchen.
Interessieren sich junge Eltern heute mehr für Gesundheitshemen als vor zehn Jahren?
Grundsätzlich möchten alle jungen Eltern, dass ihre Kinder gesund aufwachsen. Doch nicht alle Familien haben gleich gute Voraussetzungen. Das ist heute so wie vor zehn Jahren. Was sich geändert hat, ist die zunehmende Informationsflut, auch durch soziale Medien, die auf junge Eltern einwirkt.
Wie geht das Netzwerk auf den Unterstützungsbedarf von Eltern heute ein?
Unsere Haltung hat sich weiterentwickelt und auch unser Kommunikationsanspruch. Die individuelle Lebensrealität einer Familie gilt es anzuerkennen. Jede Familie, jedes Kind ist anders. Einheitliche Empfehlungen sind nicht mit einheitlichen Umsetzungswegen gleichzusetzen. Familien brauchen verschiedene Arten von Unterstützung, um in ihren Fähigkeiten bestärkt zu werden. Wir kommunizieren heute auf Augenhöhe, diverser, rücksichtsvoller – weg von der Botschaft „Das ist das Beste für Ihr Kind“ hin zu konkreten, alltagspraktischen Ansätzen. Das Netzwerk ist eine wichtige Konstante geworden und gibt nicht nur Schwangeren und Eltern viel Sicherheit, sondern auch den Fachkräften.
Wie erreichen Sie Eltern, die selbst nicht aktiv nach Informationen suchen?
Das sind häufig belastete Familien, Eltern mit niedrigerer formaler Bildung oder mit Migrationshintergrund. Etwa ein Viertel unserer Gesellschaft erreichen wir schlecht. Diese Gruppe würde aber am meisten von Gesundheitsförderung profitieren. Diese Familien müssen wir auf anderen Wegen erreichen, etwa durch bestimmte Schlüsselpersonen in ihren Lebenswelten, die sie auf Augenhöhe ansprechen: Das können wir zum Beispiel gemeinsam mit den Fachkräften und Akteur*innen aus den Netzwerken der Frühen Hilfen erreichen.
Worauf sind Sie besonders stolz?
Ich freue mich, dass unsere Themen mittlerweile ganz oben auf der politischen Agenda angekommen sind. Der Koalitionsvertrag der Bundesregierung hat 2018 erstmals den Fokus auf die ersten 1.000 Tage im Leben eines Kindes bei der Förderung einer gesunden Ernährung festgeschrieben. Ein ganz entscheidender Schritt für unsere Arbeit, so verändern wir auch strukturelle Dinge. Die Bundesregierung hat etwa die Nationale Stillstrategie auf den Weg gebracht, um Deutschland stillfreundlicher zu machen. Uns hat sie mit der Umsetzung der Kommunikationsstrategie dazu beauftragt. Dass Deutschland stillfreundlicher werden muss, wissen wir durch die systematische Bestandsaufnahme des Forschungsprojekts Becoming Breastfeeding Friendly, kurz BBF, welches das Netzwerk federführend zusammen mit der Nationalen Stillkommission und der Universität Yale durchgeführt hat.
Ist die Stillförderung ein aktueller Schwerpunkt?
Die Stillförderung ist eines von mehreren Schwerpunktthemen derzeit. Wir wissen, dass der Stillerfolg steigt, wenn Eltern bereits in der Schwangerschaft dazu beraten werden und wenn Mütter eine gute Unterstützung erfahren. Hierzu haben wir gerade neue DIN-A4-Informationsblätter entwickelt, nach ausführlicher fachlicher Recherche, Stellungnahme und Testen mit der Zielgruppe. Diese gibt es ab Januar als praktische Abreißblöcke für Praxen und Beratungsstellen: Stilltipps für Schwangere und Tipps für Stillende. Grafisch wurden erstmals comicmäßige Illustrationen eingesetzt. Das kam im Test mit der Zielgruppe sehr gut an.
Wo sehen Sie das Netzwerk in der Zukunft?
Ich wünsche mir, dass wir die Lebenswelten von jungen Familien so gestalten, dass zum Beispiel in der Ernährung die gesündere Wahl die einfachere Wahl ist und dass Angebote zur Förderung eines gesunden Lebensstils alle Bevölkerungsgruppen erreichen. Das hilft insbesondere sozial benachteiligten Familien, ihre Kinder gesund aufwachsen zu lassen.
Die Fragen stellte Taalke Nieberding, Netzwerk Gesund ins Leben.
Wissenschaftsredakteurin
Taalke Nieberding
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Internet
Telefon 0228 6845-2732
Über das Netzwerk Gesund ins Leben
Das Netzwerk startete 2010 als dreijähriges Projekt im Rahmen der Aktionspläne der Bundesregierung gegen Allergien und „IN FORM – Deutschlands Initiative für gesunde Ernährung und mehr Bewegung“ – initiiert und finanziert vom BMEL. Eine zweite Phase lief bis 2015, bevor das Netzwerk als feste, dauerhafte Institution zunächst beim aid infodienst e. V., später im Bundeszentrum für Ernährung (BZfE) eingerichtet wurde. 2010 wurden erstmals die Handlungsempfehlungen für das erste Lebensjahr herausgegeben. Danach folgten Handlungsempfehlungen für das Kleinkindalter und die Zeit vor und in der Schwangerschaft. Sie alle werden regelmäßig aktualisiert und weiterentwickelt. Mehr über das Netzwerk erfahren Sie hier.