Hautkontakt zwischen Mutter und Kind möglichst unmittelbar nach der Geburt (auch nach einem Kaiserschnitt) wirkt sich positiv auf den Stillbeginn und eine positive Stillbeziehung aus. Das zeigen viele kontrollierte – wenngleich methodisch recht heterogene – Studien [2, 4, 5, 6, 7]. „Der direkte und intensive Hautkontakt vermittelt dem Kind Geborgenheit. Er stärkt den Bindungsaufbau zwischen Mutter und Säugling und fördert eine gesunde psychische Entwicklung des Kindes“, sagt Prof. Dr. Achim Wöckel, Klinikdirektor der Frauenklinik Uniklinikum Würzburg, der im Netzwerk Gesund ins Leben die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) vertritt. Auf die Mutter wirkt der Hautkontakt beruhigend und sorgt dafür, dass in ihrem Körper vermehrt die Stillhormone Prolaktin und Oxytocin ausgeschüttet werden. Diese fördern das Stillen. Prolaktin sorgt für die Milchbildung, Oxytocin regt den Milchspendereflex an.
Anlegen innerhalb der ersten Stunde
In den ersten beiden Stunden nach der Geburt ist das Neugeborene normalerweise wach und aufmerksam [2, 5, 6, 8]. Zum ersten Anlegen sollte das Kind der Mutter innerhalb der ersten Stunde auf den Bauch gelegt sowie das spontane Finden der Brustwarze und das erste Saugen abgewartet werden [1]. Wenn einem gesunden, zum Termin geborenen Kind genügend Zeit gegeben wird, findet es in etwa 30 bis 80 Minuten die Brustwarze eigenständig. Das frühe Anlegen des Neugeborenen fördert den Stillerfolg nachhaltig [9]. Auch die im Dezember 2020 veröffentlichte neue S3-Leitlinie zur vaginalen Geburt am Termin unterstützt die Empfehlungen für das frühe Anlegen [10].
Wiegen und Messen auf später verschieben
Muss das Kind nach der Geburt nicht als erstes untersucht werden? Prof. Dr. Achim Wöckel, Direktor der Frauenklinik des Uniklinikums Würzburg und Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des Netzwerks Gesund ins Leben, erklärt:
„Die erste Untersuchung (U1) eines reifen und gesunden Kindes nach der Geburt kann problemlos auf dem Bauch der Mutter durchgeführt werden. Klinikroutinen wie das Messen und Wiegen des Neugeborenen sollten möglichst auf die Zeit nach dem ersten Anlegen verschoben werden.“
Aktives Suchen: Das Baby findet die Brustwarze allein
Das Neugeborene bestimmt idealerweise selbst, wann es sich von der Geburt erholt hat und mit dem Trinken beginnt. Nach der Geburt wird das nackte Kind im optimalen Fall direkt auf den Bauch der Mutter gelegt – oder sie legt es selbst dorthin –, ohne vorher gewaschen, eingewickelt oder angezogen zu werden. Um nicht auszukühlen, werden das Neugeborene und die Mutter in dieser Zeit mit einer Decke oder einem warmen Tuch bedeckt [10]. Dabei ist es wichtig, dass sie sich gegenseitig anschauen können. Eine Hebamme begleitet die beiden in dieser Phase und beobachtet sie [4]. Der sogenannte Breast Crawl (aus dem Englischen, bedeutet übersetzt „zur Brust kriechen“) ist ein Urinstinkt, der erstmals 1987 wissenschaftlich beschrieben wurde [11].
Ablauf des Breast Crawl
Das Kind benötigt Ruhe und Zeit, um seinen Weg zur Brust selbst zu finden. Nach dem ersten Schreien liegt das Neugeborene ruhig auf der Mutter. Nach einigen Minuten macht es kleine Bewegungen mit Kopf und Schultern. Auch Mund- und Saugbewegungen sind zu beobachten, es schaut die Mutter an und beginnt zu suchen. Als nächstes beginnt der Säugling, mit Krabbelbewegungen die Brustwarze und den Brustwarzenhof zu suchen. Er gibt dabei auch kleine Laute von sich und reagiert mit Blickkontakt auf Stimme und Aktivitäten von Mutter und Partner bzw. Partnerin. Schließlich dockt das Kind selbstständig an und beginnt zu saugen [3, 12].
Wenn die Mutter während der Geburt Medikamente, etwa starke Schmerzmittel oder eine PDA, erhalten hat, dauert dies ggf. etwas länger [13]. Falls das Baby nicht alleine die Brust sucht, kann die Hebamme oder eine andere Fachkraft unterstützen. Anderthalb bis zwei Stunden nach der Geburt schläft der Säugling meist entspannt ein, oft auch die Mutter.
Die neun Stadien des Breast Crawls nach Widström
1. Das erste Schreien nach der Geburt: erleichtert die Ausdehnung und Belüftung der Lunge.
2. Entspannungsphase: Der Säugling liegt ruhig auf der Mutter, er macht keine Mundbewegungen, Hände bleiben ruhig und entspannt.
3. Erwachen: Nach wenigen Minuten macht der Säugling erste kleine Bewegungen mit Kopf und Schultern.
4. Aktivität: Erste Mund- und Saugbewegungen sind zu beobachten, der Säugling öffnet seine Augen, schaut die Mutter an, macht erste Suchbewegungen.
5. Ruhephasen: sind zwischen den aktiven Phasen immer wieder zu beobachten.
6. Krabbeln und Robben: Als nächstes beginnt der Säugling, mit Krabbelbewegungen (crawl) die Brustwarze und den Brustwarzenhof zu suchen. Er gibt dabei auch kleine Laute von sich.
7. Kennenlernen und Gewöhnen: Der Säugling berührt und massiert vermehrt die Brust, führt die Hand zur Brustwarze und wieder zum Mund, macht Suchlaute, streckt die Zunge heraus und schleckt am Brustwarzenhof und der Brustwarze. Er reagiert mit Blickkontakt auf Stimme und Aktivitäten von Mutter und Partner*in.
8. Saugen: Durchschnittlich erreicht der Säugling 1 Stunde nach der Geburt die Brust, dockt selbstständig an und beginnt zu saugen. Wenn die Mutter während der Geburt Medikamente erhalten hat, dauert dies oft länger.
9. Schlafen: 1,5 bis 2 Stunden nach der Geburt schläft der Säugling entspannt ein, oft auch die Mutter. [3]
Im Internet finden sich viele Kurzfilme, die das eigenständige Finden der Brust durch das Baby beeindruckend dokumentieren. Zum Beispiel hier.
Falls Hautkontakt mit Mutter nicht möglich ist
Manchmal kann der direkte Hautkontakt nach einer Geburt nicht ermöglicht werden: etwa nach einer Geburt unter Vollnarkose, nach einer Frühgeburt oder wenn eine medizinische Versorgung von Mutter oder Kind dem entgegensteht. Mutter und Kind sollten in diesem Fall den ungestörten Hautkontakt und den Stillbeginn so bald wie möglich nachholen können.
Eine Bezugsperson wie der Partner oder die Partnerin kann in den ersten Stunden nach der Geburt das nackte Kind auf Bauch und Brust legen, ihm Wärme und Geborgenheit vermitteln und sein Urvertrauen stärken.
Wenn Stillen nicht infrage kommt
Wenn die Mutter sich bereits im Vorfeld entschieden hat, ihr Kind nicht zu stillen, sind die Zeit für ausgiebigen Hautkontakt und das ungestörte Fläschchengeben genauso wichtig. Der Hautkontakt hilft dem Kind, seine Körpertemperatur und Stoffwechsel-Faktoren wie den Blutzuckerspiegel optimal anzupassen. Es ist dann sinnvoll, die erste Milch – das Kolostrum – mit der Hand zu gewinnen und dem Baby nach der Geburt zu verabreichen. Auch bei anderen medizinischen Problemen oder wenn Mutter und Kind getrennt sind und der Stillstart nicht wie beschrieben stattfinden kann, wird empfohlen, (ggf. auch ergänzend) das Kolostrum zu gewinnen. Ein schläfriges oder ein nicht effektiv saugendes Baby profitiert unmittelbar von einigen Tropfen Kolostrum, die ihm mit einer Spritze, Pipette oder einem kleinen Löffel angeboten werden – sie wirken wie ein Energieschub. Dadurch kann ein Aufwecken oder ein kräftigeres Saugen gelingen. Gleichzeitig wird die Brust der Mutter durch die zusätzliche Entnahme von Milch stimuliert und die Steigerung der Milchmenge gefördert.
In der Schwangerschaft informieren
Netzwerk-Leiterin Maria Flothkötter weiß:
„Es ist wichtig, Frauen vor der Geburt darüber zu informieren, dass ihr Kind direkt nach der Geburt eigenständig die Brust finden kann. Nur so können sie wissen, mit welch faszinierenden Fähigkeiten ein Neugeborenes auf die Welt kommt. Und sie können bei der Auswahl des Geburtsortes abfragen, ob ein ungestörter Stillstart in der Regel möglich gemacht wird.“
Ob nach einer vaginalen Geburt oder nach einem Kaiserschnitt, einer Geburt in der Klinik, im Geburtshaus oder zu Hause: Oft lässt sich gut einrichten, dass Mutter und Kind diese wertvolle Zeit direkt nach der Geburt miteinander erleben können.