Die Zusammenhänge zwischen Stillverhalten und Sozialstatus sind lange bekannt. Frauen mit einem niedrigen sozioökonomischen Status stillen seltener und kürzer. Das trifft auch auf junge Frauen sowie auf Frauen zu, die während der Schwangerschaft Alkohol getrunken oder geraucht haben. Es ist auch keine neue Erkenntnis, dass Familien in psychosozial belasteten Lebenssituationen Angebote der Prävention und Gesundheitsförderung selten wahrnehmen – obwohl sie einen hohen Unterstützungsbedarf haben. Wenig belastete Familien mit geringem Unterstützungsbedarf nehmen die Angebote dagegen stark in Anspruch. Auf diese Weise verstärken Präventionsangebote – die zu gesundheitlicher Chancengleichheit beitragen sollen – den Abstand zwischen den beiden Gruppen. Ressourcenstarke Familien, die in der Lage sind, selbst Unterstützung zu organisieren, profitieren von diesen Angeboten. Ressourcenschwachen Personen kommen sie nur selten zugute. Die Ursachen für ein solches Präventionsdilemma sind multidimensional und komplex.
Welche Wege gibt es aus dem Dilemma?
Der wichtigste erste Schritt ist, die Lebensstile und Lebensrealitäten der belasteten Familien zu kennen. Indem subjektive Beweggründe, Bedarfe und Bedürfnisse erhoben werden, können die Gründe für eine geringere Inanspruchnahme tatsächlich verstanden und die Erkenntnisse für eine bessere Erreichbarkeit und Unterstützung genutzt werden.
Familien, die Präventionsangebote seltener in Anspruch nehmen, fehlen häufig die notwendigen Ressourcen, um einen gesundheitsförderlichen Lebensstil führen zu können. Damit geht ein Gefühl von Orientierungs- und Hilflosigkeit einher. Betroffene empfinden es nicht selten als Eingeständnis von Schwäche, wenn sie Unterstützungsangebote annehmen. Zusätzlich führt die Erfahrung, dort herablassend behandelt und nicht verstanden zu werden, zu einer ablehnenden Haltung gegenüber diesen Angeboten. Hier kann die Stillförderung ansetzen. "Stillen sollte als Ressource genutzt werden. Insbesondere bei Frauen in belasteten Lebenssituationen kann gelingendes Stillen das Selbstbewusstsein stärken, Herausforderungen mit eigener Kraft zu bewältigen." Das betonte Mechthild Paul vom NZFH bei einer Fachkonferenz zum Forschungsvorhaben Becoming Breastfeeding Friendly am 5. Juni 2019 in Berlin, bei der Ergebnisse und Empfehlungen zur Stillförderung in Deutschland vorgestellt wurden.
Unterstützung mit den Familien im Fokus
Erfolgreich sind niedrigschwellige Maßnahmen. Für die Stillförderung sind das aufsuchende Angebote wie z. B. Familienhebammen, Willkommensbesuche nach der Geburt oder Stadtteilmütter. Hilfreich sind Fachakteur*innen mit einer Lotsenfunktion zwischen den verschiedenen Angeboten der Gesundheitsförderung. Auch bereits bestehende und berufsgruppenübergreifende Vernetzungsstrukturen (wie kommunale Präventionsketten) sollten genutzt werden, um belastete Familien beim Stillen zu unterstützen. Dabei kommt es darauf an, die Familien in ihren Selbsthilfepotenzialen zu stärken und ihnen eine wertschätzende Haltung entgegenzubringen. Der Fokus sollte nicht auf den Defiziten liegen. Stattdessen sollten Potenziale und Ressourcen erkannt und hervorgehoben werden. Eine authentische und feinfühlige Kommunikation ist maßgeblich für den Aufbau von Vertrauen und Vertrauen wiederum stärkt ganz wesentlich das selbstbestimmte Handeln in belasteten Familien.
Die Empfehlungen des Forschungsvorhabens Becoming Breastfeeding Friendly zur Stillförderung in Deutschland nehmen Familien mit höherem Unterstützungsbedarf explizit in den Blick, so z. B. die Empfehlung zur Stillförderung vor Ort oder die Empfehlung zur Kommunikationsstrategie zur Stillförderung.
Das Forschungsvorhaben Becoming Breastfeeding Friendly (www.gesund-ins-leben.de/becoming-breastfeeding-friendly) wird seit 2017 im Auftrag des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft vom Netzwerk Gesund ins Leben und der Nationalen Stillkommission gemeinsam mit der Universität Yale durchgeführt.
Veröffentlichung kostenlos unter Quellenangabe: www.gesund-ins-leben.de
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