Es gibt etwas zu tun
In einigen Bereichen sind bereits gute Rahmenbedingungen für das Stillen vorhanden, aber wir wollen und können noch stillfreundlicher werden. Das brachten die Vertreter*innen der am BBF-Projekt beteiligten Bundesministerien (BMEL, BMG und BMFSFJ) und der Präsident der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE) in der Eröffnung der Fachkonferenz deutlich zum Ausdruck. Stillen bedeutet, Kindern einen guten Start ins Leben zu geben. Doch nicht alle Kinder haben die Chance, davon zu profitieren. Deshalb sei Stilförderung auch ein Beitrag zur gesundheitlichen Chancengleichheit und damit ein wichtiges nationales Anliegen, das gestaltet werden müsse, so Dr. Hermann Onko Aeikens (BMEL).
Das Forschungsvorhaben BBF wird seit 2017 auf Initiative des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft vom Netzwerk Gesund ins Leben und der Nationalen Stillkommission gemeinsam mit der Yale School of Public Health durchgeführt.
BBF liefert evidenzbasierte Daten
An der Yale School of Public Health (USA) wurde die BBF-Methode entwickelt und von dort die Umsetzung in Deutschland begleitet. Becoming Breastfeeding Friendly hat zum Ziel, Länder zu befähigen, Politik, Wissenschaft und Praxis evidenzbasierte Fakten zur Gestaltung der Stillförderung zur Verfügung zu stellen. Mit der Statuserhebung stehe Deutschland am Beginn eines dynamischen Prozesses, der weiterer Beobachtung bedarf, so Professor Rafael Pérez-Escamilla (PDF). Stillförderung ist für ihn aber nicht nur eine nationale Aufgabe, sondern eine globale Herausforderung. Deshalb sollten sich die Länder, die das Forschungsvorhaben BBF durchgeführt haben, austauschen und die Erkenntnisse weitertragen.
Deutschland ist moderat stillfreundlich
Faktenblatt: Ergebnisse
So wird Deutschland stillfreundlich!
Ergebnisse und Empfehlungen aus dem internationalen Forschungsvorhaben Becoming Breastefeeding Friendly
Der BBF-Gesamtscore für Deutschland liegt bei 1,7 (auf der Skala von 0 „keine Stillförderung“ bis 3 „sehr gute Stillförderung“). Knapp zwei Jahre hat die BBF-Kommission in Deutschland intensiv recherchiert, analysiert und Empfehlungen abgeleitet. Dies könnte in der Stillförderung Geschichte schreiben, so Maria Flothkötter (PDF). Denn erstmals wurde die Situation in acht Handlungsfeldern systematisch anhand eines Soll-Ist-Vergleichs bewertet. Der Blick ins Detail lohnt sich. Denn erst wenn alle Handlungsfelder funktionieren, drehen sie sich reibungslos wie Zahnräder in einem Uhrwerk. Die Stillförderung hat dann optimale Bedingungen und die Stillraten können steigen.
Empfehlungen
Empfehlungen zur Stillförderung in Deutschland
Erarbeitet im Rahmen des Forschungsvorhabens Becoming Breastfeeding Friendly
Maria Flothkötter (PDF), Priv. Doz. Dr. Erika Sievers (PDF), Professorin Dr. Melita Grieshop (PDF), Dr. Cornelia Lange (PDF) und Professor Dr. Michael Abou-Dakn (PDF) stellten für alle acht Handlungsfelder die jeweiligen Fragestellungen und Methoden, die wichtigsten Ergebnisse und die daraus abgeleiteten Empfehlungen vor. Die Gesetzgebung und Finanzierung wichtiger Maßnahmen der Stillförderung wie Mutterschutzgesetz und Elterngeld gehören insgesamt zu den Stärken der Stillförderung, sind aber noch optimierbar. Besonders schwach schneidet Deutschland in den Handlungsfeldern Werbung sowie Forschung & Evaluation ab. Aber auch die Bereiche Anwaltschaft/öffentliche Fürsprache, Politischer Wille, Bildung & Stillberatung, Zielsetzung & Koordination bieten mit mittleren Bewertungen noch „Luft nach oben“. Stillen ist kein Selbstläufer! Das machten die Referent*innen deutlich. Deutschland braucht einen Masterplan, der Motor für die Stillförderung wird. Dieser beinhaltet die Entwicklung einer nationalen Strategie zur Stillförderung inkl. Leitbild, die Neuausrichtung der Nationalen Stillkommission als strategisches und politisch beratendes Gremium und die Einrichtung einer dauerhaften Koordinierungs(geschäfts)stelle zur Stillförderung unter Federführung des BMEL.
Die ganze Veranstaltung zum Ansehen
Stillförderung verbessern – das gibt es zu bedenken
Stillen ist in der öffentlichen Wahrnehmung alles andere als Normalität. Es ist Skandalthema, wird stark sexualisiert und in den sozialen Medien ideologisch aufgeladen verhandelt, wie Nora Imlau und Professor Dr. Matthias Hastall (PDF) zeigten. Um das normale/alltägliche Stillen als Thema zu setzen, wird evidenzbasierte Kommunikation gebraucht. Es ist wichtig, die Zielgruppen und ihre tatsächlichen Motive und Werte zu kennen, die aus ihrer Sicht für oder gegen das Stillen sprechen. Imlau und Hastall empfahlen, Stillen mit positiven Emotionen zu verknüpfen, es als etwas Natürliches und Normales zu zeigen, mit Ammenmärchen aufzuräumen und die individuelle Wahlfreiheit zu betonen. Das alles könne stillenden Müttern den Rücken stärken und werdende Mütter in ihrer Stillabsicht bestärken.
Stillförderung ist erfolgreich, wenn sie auch Familien in belasteten Lebensverhältnissen erreicht. Wir müssen ihre Lebensweise, ihren Lebensstil und ihre Denk- und Verhaltensmuster verstehen, plädierte Mechthild Paul (PDF). Übliche Angebote der Primärprävention bringen nicht weiter, denn sie werden von Frauen in prekären Lebensverhältnissen kaum in Anspruch genommen. Sie fühlen sich dadurch überfordert und sehen keinen Nutzen darin. Sie wünschen sich vielmehr zentrale Anlaufstellen mit regionalem Bezug und vor allem einen wertschätzenden Umgang. Ein Lotsensystem, das frühzeitig und flächendeckend ansetzt, und Netzwerke auf kommunaler Ebene wie die Frühen Hilfen können Frauen in belasteten Lebensverhältnissen erreichen. Möglichkeiten, wie Stillen über die Strukturen der Frühen Hilfen gefördert werden kann, sind in einem aktuellen Eckpunktepapier zusammengefasst.
Gesundheitsökonomische Aspekte des Stillens nahm Professorin Dr. Stephanie Stock (PDF) in den Blick: Stillen kann das Gesundheitssystem entlasten. Internationale Modellrechnungen aus anderen Ländern zeigen, dass Stillen die in Anspruch genommenen Gesundheitsleistungen senkt. Auch wenn die Kosten der Stillförderung nicht immer gegengerechnet werden, so geben die Modellrechnungen doch Hinweise, dass aus den Einsparungen die Stillförderung finanziert werden könnte. Die Erreichbarkeit vor allem der vulnerablen Gruppen ist aber entscheidend, um eine Verbesserung der Kosten-Nutzen-Bilanz im Kontext Stillen zu erreichen.
Stillfreundlichkeit hat viele Gesichter
Mit der Podiumsdiskussion schlug die Fachkonferenz den Bogen von der Theorie in die gelebte Praxis. Lebhaft diskutierten Sandra Bär (Klinikum Oldenburg), Kathrin Gräbener (RTL/n-tv), Ulrike Hauffe (Barmer Verwaltungsrat, G-BA), Dr. Ulrike Horacek (Gesundheitsamt Recklinghausen) und Silke Raab (Deutscher Gewerkschaftsbund). Eine systematische Beratung zum Stillen in der Schwangerschaft könnte beispielsweise durch Aufnahme in die Mutterschafts-Richtlinien erreicht werden. Diese regeln Umfang und Zeitpunkt der ärztlichen Leistungen während der Schwangerschaft und nach der Entbindung und das Zusammenwirken mit Hebammen. Auch Patient*innenvertretungen können Anträge beim Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) einreichen. Gute Bedingungen für das Stillen können Klinken schaffen. Die Babyfreundlich-Klinik Oldenburg bietet beispielsweise nicht nur Stillförderung rund um die Geburt, sondern auch einen Informationsabend für werdende Eltern und eine Stillhotline an, Angebote die rege genutzt werden. Kommunen könnten z. B. bei Willkommensbesuchen von Familien nach der Geburt des Kindes auch auf Stillförderungsangebote hinweisen. Stillen am Arbeitsplatz ist rechtlich geschützt, aber es braucht ständige Sensibilisierung für das Thema. Betriebe, die für gute Bedingungen sorgen, um Beruf und Familie zu vereinen, haben für die zunehmende Anzahl der berufstätigen Mütter einen Wettbewerbsvorteil.
In Filmen und TV-Serien sind stillende Mütter so gut wie nicht präsent. Ein wenig Provokation könnte dafür sorgen, die Aufmerksamkeit der Medien zu erreichen.
Packen wir’s an
Evidenzbasierte Ergebnisse und Empfehlungen liegen nun vor, Enthusiasmus und Engagement für das Thema ebenfalls. Dies war in den Vorträgen, Diskussionen, Gesprächen – ob im Plenum oder im Publikum – den ganzen Tag über spürbar. Die Zeit sei reif, Stillförderung anzupacken, brachte Professorin Dr. Regina Ensenauer es auf den Punkt. „Die BBF-Ergebnisse sind Ausgangspunkt, um an allen notwendigen Stellschrauben zu drehen, die Stillförderung in die Fläche zu bringen und Stillen zu etwas Selbstverständlichem zu machen“, resümierte Maria Flothkötter – egal ob zu Hause, auf der Parkbank, im Restaurant, am Arbeitsplatz, im Bus oder auf einer Konferenz, wie dieser.